Japan. Was kommt einem bei dem Thema in den Sinn? Mal sehen…vermutlich relativ schnell die Stichworte Sushi, vollgestopfte U-Bahnen, Zeichentrickfiguren mit großen Kulleraugen, Walfang, Hello Kitty. Was fällt auf? Nicht alle Begriffe, aber doch die meisten von ihnen, haben etwas irgendwie Liebenswertes, hochgradig Ästhetisches an sich. Während wir Westler in der Mittagspause „dahingeklatschte“ Currywürste und Burger verschlingen, sieht in Japan selbst die Lunchbox mit ihren dicht und behutsam angerichteten Sushirollen wie die Seite aus einem Bilderbuch aus.
Ganz viel Zuckerguss
Ein Wort, das diesen japanischen Gestus unter einen Hut bringt, ist „Kawaii“. Kawaii ist, überspitzt gesagt, die japanische Variante von „Cool“, nur mit einer ordentlichen Portion Zuckerguss. Dann noch in Honig tunken und Ahornsirup darüber träufeln – voilà, Kawaii.
Kawaii bedeutet wörtlich übersetzt „süß“, „liebenswürdig“, „niedlich“. Ursprünglich stammt das Wort aber vom Ausdruck „kao hayushi“ ab, der früher verwendet wurde, um das Erröten eines Gesichts zu beschreiben. Wird jemand rot, fühlt man mit ihm, ist vielleicht ergriffen, stößt ein mitfühlend-langgezogenes „Ooooooh“ aus. Genau das führte dazu, dass man mit Kawaii heute immer etwas beschreibt, das irgendwie niedlich ist.
Obszöne Tentakel: Warum Japaner anders sind
Um zu verstehen, warum sich gerade in Japan eine Kawaii-Kultur entwickeln konnte und diese Welle zunehmend in den Westen hinüberschwappt, muss man sich zunächst etwas Wichtiges klarmachen: Japaner sind anders. Das sieht man zum Beispiel am Umgang mit den Medien. Denn hier ist man weitaus offenherziger als der prüde Westen. Sexualität, Nähe und die Betonung körperlicher Reize sind hier keine Tabuthemen – selbst Inhalte, die sich an Kinder richten, zeigen mehr „Offenheit“. Ein Beispiel von vielen: Während in „Dragonball“ das Gemächt des jungen Son Goku in Japan ohne Probleme auf Manga-Seiten gedruckt werden konnte und über den Bildschirm flimmern durfte, sah man ihn in den USA nur mit einem Feigenblatt vor der erogenen Zone. „A human wang? No way!“
Hokusai, der Maler, der heute weltberühmten „Great Wave“, fertigte schon im 19. Jahrhundert Holzschnitte an, bei deren Anblick der europäische Hochadel sich an seinen Croissants verschluckt hätte. Etwa, wie eine junge Dame von einem Tintenfisch befriedigt wird, eng umschlungen von seinen Tentakeln. Fast so, als seien Mensch und Tier eins.
Ist das pervers, ist das…krank? Nach japanischer Auffassung nicht, solange es sich in der Fantasie abspielt. In Japan gibt es den Spruch „Der Nagel, der hervorsteht, wird hinein gehämmert“. Kurz und knapp: Outsider werden nicht geduldet, wer dazu gehören will, muss sich anpassen. Es ist vermutlich dieser gesellschaftliche Druck, der Japaner umso mehr dazu (ver)führt, und es auch umso mehr als „akzeptiert“ etabliert hat, sich wenigstens im Gedanklichen, im Virtuellen dem hinzugeben, was man eigentlich nicht darf. Nach außen gibt man sich reserviert, während innen die grotesken Gedanken nur so eruptieren. Hauptsache, der Vulkan bricht im Real Life nicht aus.
Unschuld für den Alltag
Das bringt uns zurück zum Thema Kawaii. Jetzt versteht man umso mehr, warum die Japaner allzu bereitwillig ihren Alltag mit Niedlichem aufladen. Es macht das Leben in diesem hektischen und engen, häufig von Erdbeben heimgesuchten Land, in dem sich Millionen von Menschen auf dichtem Raum tummeln, einfach ertragbarer. Genau deswegen erhalten selbst die ernsten und biederen Dinge in Japan ihren Schuss Kawaii. Fast jede Stadt, jede Polizeistation, selbst Ministerien, haben ihr eigenes Maskottchen. Das ändert nichts daran, dass auch in Japan Politik und Verbrechensbekämpfung sehr trockene und bürokratische Angelegenheiten sein können. Aber, andererseits: Gehe ich nicht gleich viel entspannter ins Gespräch mit der Sachbearbeiterin im Bürgeramt, wenn mich zuvor das bunte Maskottchen begrüßt hat, als wenn mich ein karger Eingangsbereich empfängt?
Man schämt sich in Japan nicht, Dingen einen infantilen Anstrich zu geben. Selbst der korrekteste und penibelste Mensch trägt im Herzen etwas Kindliches mit sich herum, gibt sich beizeiten dem Spieltrieb hin. Und fühlt sich dann, zumindest für eine kurze Zeit, wieder jung, unschuldig, ja irgendwie „rein“. Diesen Geist möchte die Kawaii-Kultur bewahren und für jeden erlebbar machen, egal wie alt man ist.
Durch die zunehmende Verbreitung von asiatischer Populärkultur im Westen, seien es gedruckte Erzeugnisse, Animes oder der Erfolg von Bands wie „BTS“, ist es auch hierzulande durchaus mal der Fall, im Alltag auf etwas zu stoßen, das Kawaii ist. Keine Bahnhofsbuchhandlung kommt heutzutage ohne ihre eigene Manga-Ecke aus. Asiatische Restaurants zelebrieren Kawaii mit niedlichen Figuren auf der Außenfassade und der Speisekarte. Junge Frauen kleiden sich als unschuldiges „Kawaii-Girl“, wenn sie auf Messen und Veranstaltungen unterwegs sind.
Niedliches Blut
Lust auf ein kleines Kawaii-Experiment? Gibt es etwas, vor dem du dich fürchtest? Oder vielleicht etwas, von dem du dachtest, es sei einfach nicht möglich, es niedlich darzustellen? Dann einfach mal diesen Begriff zusammen mit „Kawaii“ bei der Bildersuche im Netz eingeben. Nur ein paar Inspirationen: „Kawaii Death“, „Kawaii Zombie“ und „Kawaii Blood“. Danach siehst du besagte Dinge womöglich ganz anders. Und fürchtest dich vielleicht nicht mehr davor, Blut spenden zu gehen.
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